Empfehlungen zu Bildschirmmedien bei der U3

Digitalisierung bestimmt unser Leben. Erhebliche Zweifel bestehen jedoch, ob Digitalisierung auch notwendigerweise das Leben von Kindern bestimmen sollte. Im ersten Teil der Informationen an die Pädiater*innen zu digitalen Medien für das Alter von der Geburt bis 3. Geburtstag werden foreground und background exposures (Vorder- und Hintergrundbelastungen) diskutiert.

Vom Uwe Büsching

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Empfehlungen zu Bildschirmmedien bei der U3hirmmedien U3

Mit der Geburt ändern sich für Eltern die Perspektiven, eigene Idealvorstellungen mischen sich mit dem Wunsch nach optimalen Bedingungen für das Neugeborene. Die Informationsflut ist gewaltig: Mainstream, ungebetene Berater, Ratschläge, was ist wirklich, was ist Selbstdarstellung, was ist Werbung? Deshalb ist die Früherkennungsuntersuchung U3 für viele Eltern eine Standortüberprüfung. War dies für Ernährung, Körperpflege und andere Fragen schon immer so, so sollte die Pädiatrie auch zu digitalen Bildschirmmedien Stellung beziehen. Kritische Distanz zu den medialen Empfehlungen im mittelbaren Umfeld von Werbung einerseits und Faktenwissen andererseits, durchaus verbunden mit eigenen Anschauungen, helfen Eltern bei Entscheidungsfindungen.

Die Unreife des Neugeborenen ist jungen Eltern bei der Verdauung bekannt, beim Gehirn wohl weniger. Leicht zu vermitteln ist, bis zur 20. Lebenswoche möglichst keine industriell hergestellte Nahrung zu geben. Viel schwieriger ist die Forderung nach möglichst drei Jahre keinerlei Kontakt zu digitalen Medien. Eine Ausnahme könnte z. B. der Videokontakt mit der Großmutter in Brasilien sein, sonst ist die Aussage allgemeingültig.

Vorsicht: Entwicklung!

In der Neugeborenen-Phase treffen digitale Bildschirmmedien auf ein sehr unreifes Gehirn. Migration, Axon- und Dendritenausbildung, Synaptogenese, Markscheidenbildung sind in den verschiedenen Arealen des Gehirns in unterschiedlichen Stadien, aber längst nicht abgeschlossen. Dazu ist auf Wikipedia zu lesen: Die Synaptogenese bezeichnet die Entstehung oder Bildung neuer Synapsen an einer Nervenzelle. Sie ist zusammen mit der Synapseneliminierung Grundlage für die lebenslange Plastizität des Gehirns. Die Geburt orientiert sich eben nicht am Reifezustand des Gehirns. Das Gehirngewicht eines reifen Neugeborenen beträgt etwa 350 gr, das Gehirngewicht eines 3 Jahre alten Kindes entspricht mit etwa 1500 gr etwa dem eines Erwachsenen, obwohl die Hirnentwicklung noch viele Jahre andauert. (Quelle:Zilles, K., Werners, R., Büsching, U. et al. Ontogenesis of the laminar structure in areas 17 and 18 of the human visual cortex. Anat Embryol 174, 339–353, 1986). https://doi.org/10.1007/BF00698784

Auch diese Grundkenntnisse der Hirnreifung begründen die hier vorgestellten Empfehlungen, die bis zum 3. Geburtstag gelten. Überwiegend raten Experten international zu Bildschirmfrei bis drei. Bildschirmfrei bedeutet, dass das Kind keinen aktiven Umgang mit Laptop, Handy und Co. hat. Dies sind auch die Empfehlungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Empfehlungen zur Höchstdauer der Mediennutzung finden Sie hier: www.kindergesundheit-info.de/themen/medien/alltagstipps/mediennutzung/hoechstdauer Die Folgen der frühen Nutzung digitaler Bildschirmmedien sind vielen Eltern unbekannt. Wenn Eltern bei der U3 nicht fragen, sollen Pädiater auf die Elternversion bei www.kinderaerzte-im-netz.de verweisen: Besser noch: einen Ausdruck in das Gelbe Heft legen.

Verzicht empfehlen

Die (Bildschirm-)Mediennutzung der Eltern muss sich mit Geburt eines Kindes ändern, für alles wie Fernsehen, Streamen, Mails checken, Computerspiele und auch für Telefonate mit Freunden (nur kurz in Anwesenheit des Kindes – das Kind hat Vorfahrt). Ob ein Bildschirm überhaupt im Schlafraum sein sollte? Aber ab der Geburt, auch wenn das Baby nur zum Kuscheln geholt wird, muss der Schlafraum bildschirmfrei sein, keine Chance für Ausnahmen.

Sind die Vorteile der digitalen Welt Versprechungen der Werbung oder sind sie Realität? Leider folgen allzu viele Eltern der Werbung, gäbe es sonst einen Markt für eine Tablet-Halterung am Töpfchen oder Handyhalterung am Kinderwagen? Aus dem Vorbild, wie Mütter überall erreichbar sind – total medial vernetzt erscheinen – erlebt das Kind, wie wichtig Medien in dieser Welt sind. Es ist keine bewusste Absicht, wenn Eltern Telefonate, Fernsehen oder Homeworking über die Interessen der Kinder stellen, die Wirkungen aber sind wirklich nicht umfassend erforscht, hinreichende Belege gibt es bereits für Bindungs- und Entwicklungsstörungen. Kleinkinder benötigen für eine gesunde Entwicklung Zuwendung und Konstanz, Ablenkungen schaden. Neuroanatomisch werden Synapsen gefestigt, ob nun die zu Bindung und Kommunikation oder die zu digitalen Bildschirmen. Das Problem besteht in den bewegten Bildern, die ganz besonders die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Zufriedenheit beim Betrachter auslösen. Das bewegte Bild fesselt das Kind, das kindliche Verhalten ist nicht Interesse, sondern Ablenkung. Aber so wird verständlich, warum sich Kleinstkinder in der Praxis mit Videos auf dem vorgehaltenen Handy beruhigen.

Werden dem Kind Bildschirmmedien angeboten, so bezeichnet man dies als foreground exposures, aber auch background exposures sind nicht harmloser. Die größten Probleme verursacht wohl der unreflektierte Umgang mit dem Bildschirm in Anwesenheit des Kindes. Das Phänomen des gewollten „Abschaltens“ mit dem „Einschalten“ des Bildschirms ist weit verbreitet. Ist das Kind im Raum soll der Bildschirm ausgeschaltet bleiben, Nachahmung gilt es zu verhindern! Einen kleinen Beitrag zur Bewegungsförderung bietet die Entscheidung, die Fernbedienung, so noch vorhanden, zu entfernen. Besser noch ist es, den Fernseher in einem abschließbaren Schrank aufzubewahren: aus den Augen, aus dem Sinn, und der Schlüssel liegt in der Küche. Allesamt Möglichkeiten die background exposures zu vermindern.

Prioritäten setzen

Das Telefonieren in Anwesenheit des Kindes ist ein weiteres klassisches Hintergrund-Problem. Oft muss das Kind erleben: Telefon, Mobiltelefon ist für Mama wichtiger als ich. Wenn Eltern berichten, wie Kleinkinder auf Besuch reagieren und wie auf Telefonate, so wird leicht der Unterschied zwischen virtueller und realer Welt ersichtlich. Deshalb: Rückruftermin für eine Zeit vereinbaren, in der das Kind schläft!

Enttäuschung, Frust und Widerstand durchlebt das Elternteil, das sich wegen des Kindes vor der Geburt mit dem Arbeitgeber für Homeoffice entschied und nun durch die Pädiater*innen mit den Gefahren durch background exposure konfrontiert wird. Wie wunderbar ist die Idee von Familie und Beruf unter einem Hut, Kind, Haus, Pferd, Urlaube – Dank sei der Digitalisierung – alles machbar. Vater am Laptop in Homeoffice, Kind auf dem Schoss, vielleicht noch Milchflasche trinkend, die allerbesten Voraussetzungen für eine Bindungsstörung.


Empfehlungen von Anfang an:

A) Eltern sind Vorbilder, auch bei der Nutzung von Medien
B) Lernen Kinder im richtigen (realen) Leben, lernen sie fürs Leben und nicht für eine Scheinwelt
C) weniger ist mehr
D) Bildschirmmedien sind kein Babysitter
E) Bildschirmmedien aus dem Blick entfernen
E) Schaffung bildschirmmedienfreier (zeit-) räume
F) Bildschirmmedien nicht zur Belohnung, Bestrafung oder Beruhigung einsetzen


Der Mensch wird am Du zum ich – und nicht vor dem Bildschirm

Entwicklung setzt menschliche – mütterliche Nähe voraus, alle dringend notwendigen Entwicklungen des Kleinkindes brauchen wohlwollende Verstärkung, Liebe und Geborgenheit. Berufliche Karriere erfordert gelungene kindliche Entwicklung. Eltern sind durch digitale Bildschirmmedien nicht zu ersetzen, auch nicht teilweise.

Viele Empfehlungen zu digitalen Bildschirmmedien stehen in deutlichem Widerspruch zu der Annahme, je früher ein Kind den Umgang mit ihnen lernt, umso besser sind seine beruflichen Möglichkeiten. Eine bisher sehr erfolgreiche Behauptung der Anbieter, doch für die ersten drei Lebensjahre gilt diese Behauptung keineswegs. Das Wissen zu den interessanten, prägenden und viel zu schnell verlaufenden Entwicklungsschritten der ersten Lebensjahre ist kaum vorhanden und oft nur sehr oberflächlich. Während wir Pädiater*innen unablässig aller Welt erklären, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, verharren die Anbieter im 19. Jahrhundert. Sie ignorieren die Entwicklungspsychologie und sehen bis auf die Größe kaum Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.

Motorik, Sprache und Sozialverhalten

Die Münchener funktionelle Entwicklungsdiagnostik erfasste zeitliche Abläufe der Entwicklung der Grob- und Feinmotorik, Sprache und Sozialverhalten in den ersten drei Lebensjahren. Für diese Lebenszeit gibt es keine harten Daten, dass und wie sich digitale Bildschirmmedien auf die Sprachentwicklung auswirken. Aber wenn es zu wenig Forschung gibt, dann sollten wir sehr vorsichtig sein: Es geht um kindliche Entwicklung, da sind Fehler kaum zu korrigieren. Nachgewiesen sind vermehrte Notwendigkeit von Logopädie im Vorschulalter und deutliche Lernleistungsminderung bei Schüler*innen.

Für den Bereich der Motorik gilt ähnliches wie für Sprache. Die fein- und grobmotorischen Leistungen nehmen seit Jahrzehnten kontinuierlich ab. Der Beweis der ausschließlichen Ursache bei den digitalen Bildschirmmedien wird nicht gelingen. Bewegungsstörungen und Adipositas haben viele Gründe. Aber Motorik geht nicht ohne Sensorik, und die Sensomotorik muss geübt werden: hinfallen, aufrichten, Krönchen richten und weitermachen. Der grüne Rasen auf dem Bildschirm fühlt sich anders an als der, über den man läuft. Kleinkinder müssen immer wieder üben, nicht nur die Return-Taste drücken. Sie lernen, im richtigen Leben gibt es oft keine Return-Taste.


Weitere Empfehlungen aus den Leitlinien

Eltern sollen informiert und unterstützt werden, …

  • während des Essens, insbesondere der gemeinsamen Mahlzeiten, keine Bildschirmmedien zu nutzen und bei der Nutzung von Bildschirmmedien nicht zu essen.
  • ihre Kinder hinsichtlich einer vielfältigen Kommunikation, auch ohne elektronische Geräte, zu unterstützen und anzuleiten (persönliche Konversation, Telefonate, Briefe etc.).
  • möglichst auf Fernbedienungen und Sprachsteuerungen zu verzichten und diese ihren Kindern unzugänglich zu machen.
  • in Gegenwart von jüngeren Familienmitgliedern auf die Nutzung von Bildschirmmedien zu verzichten.
  • in Situationen, in denen in Gegenwart von Kindern und Jugendlichen die Nutzung von Bildschirmmedien (z. B. berufsbedingt) in der Freizeit nicht vermeidbar ist, zuvor für alternative Beschäftigungsmöglichkeiten zu sorgen. Den Kindern soll die Notwendigkeit der Nutzung von Bildschirmmedien erklärt werden.

Auch Sozialverhalten und emotionale Kompetenz muss geübt werden. Für dieses Üben benötigt das Kind Trainingsmöglichkeiten. Zu den frühen Sozialleistungen, wie fixieren, gehört auch eine reflektierende Bezugsperson und kein Roboter oder Bildschirm. Ohne Gegenüber wird ein Kind nicht lernen, mit Blicken zu verfolgen, Blickkontakt zu suchen oder ein spontanes Lächeln zu zeigen. Mimische und gestikulierende Kommunikationen wird nicht verfeinert, soziales Lachen bleibt aus.

Mit etwa sechs Monaten werden die Interaktionen differenzierter, das Kind unterscheidet bekannt von unbekannt, beginnt mit Lauten zu kommunizieren. Auf dem schützenden Arm der Bezugsperson nutzt das Kind seine Position aktiv, um Überblick über nähere Umgebung zu gewinnen. Dies ist ein ganz egoistischer Grund, Körperkontakt zu suchen, Alleinsein zu fürchten (Trennungsängste). Das Kind entwickelt Charme und Ablehnen, es probiert und lernt am Erfolg, versucht mit Bindungspersonen gemeinsames Interesse zu teilen. Ein noch so „kindgerechter“ Bildschirmpartner wird auf all das nicht eingehen.

Unentwegtes, positiv motiviertes Ausprobieren erworbener oder neu zu erwerbender Fertigkeiten formt Selbständigkeit (essen, anziehen), festigt die Fähigkeit des Alleinseins und ermöglicht, fern vom Arm der Mutter einen aktiven/kommunikativen Austausch mit anderen Kindern. Stets aber benutzt das Kind die Bezugsperson als Orientierung und sicheren Rückzugsort.

Nach dem 2. Geburtstag wird das Verlangen nach Selbständigkeit übergroß, es kommt zur ersten sozialen Krise, dem Trotzalter. In dieser Zeit lernt das Kind sehr viele Worte (Wortexplosion) und einfache Satzkonstruktionen. Es versteht ein Vielfaches von dem, was es aktiv spricht. Zudem lernt es einfachen Werkzeuggebrauch, kennt erreichbare Schalter, deren promptes Funktionieren wiederholt und immer von Neuem ausprobiert wird. Das Kind lernt die Technik zu beherrschen, ohne diese zu verstehen.

In der nächsten Folge: Empfehlungen bis zur Lesefähigkeit.

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